Archiv der Plattentipps
Vergangene, aber dennoch aktuelle Highlights von Markus, Tom und Holger.September 2025
daoud - ok
Das Album „ok“ ist ein Album der Gegensätze und der Unterschiede und es spiegelt das Leben des französischen Trompeters daoud wieder. Die Musik von daoud ist facettenreich, abwechslungsreich, nachdenklich aber auf jeden Fall auch positiv und voller Lebensfreude. Auf dem Album werden von ihm Einflüsse von Jazz, Hip-Hop, Rock, Disco, Afrobeat und Drum‘n‘Bass verarbeitet und zu einem heterogenen Gefüge musikalischer Sterne zusammengesetzt, die auf diesem Album leuchten. „ok“ ist ein außergewöhnliches Album, das in der Form wohl noch nie auf dem Label ACT veröffentlicht wurde - toll, das es diesen Mut etwas anderes zu probieren bei dem Label gibt. Hört Euch dieses außergewöhnliche Album an, es wird bestimmt Freude bereiten.
JON BATISTE - Big Money
Zählt man Soundtracks, EPs und Kollaborationen mit, so hat der siebenmalige Grammy-Gewinner und Multiinstrumentalist Jon Batiste unlängst mit „Big Money“ sein inzwischen 18. Album abgeliefert. Und wieder ist es ihm gelungen alle zu überraschen. Bei dem Album geht es nur indirekt ums Geld, sondern vielmehr um die Wurzeln schwarzer Musik in den USA. Jon Batiste sagt, dass es ihm um eine „Cultural Repatriation“, also eine Rückholung der schwarzen Musik in den USA geht, ohne die es, und das ist unbestritten, weder den Rock’n’Roll, noch Country oder die Beatles gegeben hätte. Ähnlich wie dies übrigens Beyoncé unlängst mit ihrem Album „Cowboy Carter“ präsentiert hat. Jon Batiste hält in diesem Album mit seiner Kritik an der zunehmend verrotteten Gesellschaft der USA nicht hinter dem Berg. Ist ja auch verständlich – immerhin war er lange Jahre Bandleader bei der Late Night Show von Stephen Colbert, der unlängst von CBS, auf Druck der Regierung, gecancelt wurde. Das Album ist wirklich ein sehr schöner Querschnitt amerikanischer Roots-Musik, vom klassischen Blues in „Lonely Avenue“ (im Duett mit Randy Newman), über zeitgenössischen R’n’B in „At All“ bis hin zum Reggae-angehauchten „Angels“ (zusammen mit No ID).
ROYEL OTIS - Hickey
Vor zwei Jahren hat das australische Duo Royel Otis ihr Debutalbum „Pratts and Payne“ veröffentlicht, mit dem sie international bekannt wurden. Auch im Plattenladen erfreute sich das Album sowohl bei uns drei Fachhändlern als auch bei den Musikfans, die sich bei uns mit Musik eindecken, sehr großer Beliebtheit. Jetzt legen die beiden Jungs aus Sydney mit ihrem zweiten Album „hickey“ nach. Hickey setzt nicht nur da an, wo der Vorgänger aufgehört hat, sondern erweitert den Klangkosmos des Duos an einigen Ecken. Neben den erwarteten herrlich schluffigen Indie-Rock-Pop Perlen, die klingen, als hätte die Band sich das alles mal eben nonchalante aus dem Ärmel geschüttelt (wie „Car“ oder dem Opener „I hate thos song“), tauchen entspannt tanzbare Glanzstücke auf, die in ihrer verträumten bittersüße an Roosevelt („Good Times“) oder manchmal auch ein bisschen an Balthazar („Come on Home“) erinnern. Was dieses Album allerdings besonders empfehlenswert macht, ist diese unglaubliche Dichte an absoluten Bangern. Neben den oben bereits genannten Knallern, sollte hier unbedingt „Say Something“, „Who's your boyfriend“ und meine derzeitige absolute Lieblingsnummer „Moody“ erwähnt werden. „Hickey“ heisst übersetzt übrigens „Knutschfleck“ aber ich habe die Vermutung, dass dieses Album um einiges länger haften bleibt als ein Unterdruck-Hämatom am Hals. Die Tatsache, dass ich „Hickey“ seit Release mehrfach täglich gehört habe und mir momentan nicht vorstellen kann, dass ich mich an diesen Songs jemals überhöre, lässt vermuten, dass auch die neue Royel Otis Platte in meinen Lieblingsplatten des Jahres landen wird.
August 2025
GoGo Penguin - Necessary Fictions
GoGo Penguin sind ihrer Linie treu geblieben und haben ein spannendes und abwechslungsreiches neues Album herausgebracht. Damit aber nicht genug, die Herren Illingworth, Blacka und Scott haben sich für einige Stücke das Streicherensemble „Manchester Collective“ sowie den Singer-Songwriter Daudi Matsiko ins Boot bzw. ins Studio geholt. Weiterhin werden die Experimente mit elektronischen Sounds fortgesetzt. Das alles bringt neue spannende Facetten in den Sound des Trios aus Manchester und erneuern den Klang ungemein. Was aber geblieben ist, und das ist wunderbar, ist die unglaubliche Sogkraft der Musik. Man wird förmlich in die Musik hineingezogen, wird von dem Klang überwältigt, das ist außergewöhnlich! Am Allerbesten klappt das, wenn man den Lautstärkepegel recht hoch dreht und die Musik den ganzen Raum einnehmen lässt- das ist dann fast wie fliegen!
DURAND JONES & THE INDICATIONS - Flowers
Wenn man bei diesem Album die Augen schließt kann es passieren, dass man sich plötzlich in einer Zeitmaschine befindet. Selten gab es ein Album, das wie Flowers von Durand Jones & The Indications ohne Umschweife den Retro-Knopf drückt. Lässig bewegt sich das Album durch die Sechziger und vor allem Siebzigerjahre mit süßlichen Arrangements, gespickt mit Wohlflühl-Arrangemetns, pointierten Grooves und wunderbaren Bläsersätzen. Dies ist das Album, das einem tatsächlich einmal das Gefühl gibt, früher war einiges besser ohne dass man dies in bedauernder Stimmung tut, sondern lächelnd und fußwippend. Es ist das inzwischen vierte Album, das Durand Jones und seine Indications seit 2016 eingespielt haben und es ist ihr bestes. Ein kuscheliges Meisterwerk mit viel Liebe zum Detail und ein Muss für Soul und R&B-Fans. Das Album bringt in 45 Minuten auf den Punkt, was wir oft so sehr vermissen, sich Verlieren in der einfachen Schönheit von Musik.
MIIKE SNOW - Miike Snow
Als das schwedische Songwriter und Produzenten-Team „Bloodshy & Avant“, bürgerlich Christian Karlsson und Pontus Winnberg mit dem Amerikaner Andrew Wyatt zusammen die Band Miike Snow gründeten, waren sie schon keine unbeschriebenen Blätter mehr. Mit Arbeiten für so unterschiedliche Acts wie Kelis, Madonna und Britney Spears (für die sie Toxic schrieben und produzierten) haben sie sich einen Namen gemacht als clevere Soundtüftler mit einem Händchen für gute Melodien. Mit ihrer eigenen Band wollten sie jetzt endlich nur Musik für sich selber machen und haben dabei ein absolutes Glanzstück moderner skandinavischer Pop-Kultur erschaffen, dessen deutlicher Einfluss auf spätere Elektro- und Indie-Acts, die den melancholisch-funkelnden Pop mit emotionaler Breite pflegen, nicht abzusprechen ist. Auch nach über 15 Jahren haben die Songs nichts an ihrem Reiz eingebüßt. Sei es die beeindruckend raffinierte Produktion, die hypnotischen Hooks oder die stilistische Breitbeinigkeit zwischen New Wave, Indie Disco und Quirky-Pop – funktioniert alles auch heute noch einwandfrei.All Killer – No Filler
Und jetzt endlich wieder (wenn auch limitiert) auf Platte erhältlich.
Juli 2025
WOLFGANG HAFFNER - Life Rhythm Live
Es stellt sich die Frage; "Ist nun nach recht kurzer Zeit schon wieder ein Live-Album von Wolfgang Haffner nötig?" - Die klare Antwort ist: "Ja!" Wie die fünf Musiker miteinander musizieren ist phänomenal. Wolfgang Haffner lässt seiner Band und auch sich Raum zu solieren, aber nicht um des Solo willen, sondern, wie man im Fußball sagt, immer mannschaftsdienlich. Die Stücke sind vornehmlich vom Studio-Album "Life Rythm" plus einiger älterer Stücke aus dem reichen Haffnerschen Fundus. Und wenn es noch ein Argument bräuchte, diesen Tonträger zu kaufen, so ist das die Zugabennummer "Music" von Jon Miles.
LITTLE SIMZ - Lotus
Kaum zu glauben, dass Little Simz am Beginn der Produktion ihres nun sechsten Albums „Lotus“, überhaupt nicht so richtig zufrieden war mit den Songs und damals das Produktionsteam davor warnte, dass die ganze Sache eine große Zeitverschwendung sein könnte. So beschrieb die inzwischen 31 –jährige Londonerin in einem Interview mit dem „Guardian“ ihre Gemütsverfassung. Und nun das... Herausgekommen ist ein in allen Belangen phantastisches Album, das an Vielseitigkeit, Nuancenhaftigkeit und vor allem Klasse meiner Ansicht nach, in diesem Jahr bisher seinesgleichen sucht. „Lotus“ ist ein Meisterwerk geworden, dass es schafft eine selten gute Symbiose zwischen Stilen, Jazz-Hip Hop-R’n’B, einzugehen. Gleichzeitig ist Little Simz textlich den meisten ihrer männlichen Kollegen weit voraus, Kendrick Lamar hier einmal ausgenommen. Little Simz, geboren als Simbiatu Ajikawo, wuchs in Nord-London zusammen mit ihrer nigerianischen Mutter und drei älteren Geschwistern auf, und macht seit sie elf ist Musik. Nun ist sie Mercury-Prize und Brit-Award Gewinnerin, kuratiert das hochanerkannte Meltdown-Festival in der Londoner Southbank (wie vor ihr schon unter anderem Grace Jones, Chaka Khan oder David Bowie) und wird wohl im Herbst als Headline-Act die O2-Arena in London mit 20.000 Besuchern ausverkaufen. „Lotus“ ist meiner Meinung nach ein Meilenstein an kluger zeitgenössischer Popmusik.
SALVADOR SOBRAL & SILVIA PEREZ CRUZ - Silvia & Salvador
Der Portugiese Salvador Sobral und die Spanerin Sílvia Pérez Cruz sind zwei vielseitige, genreübergreifende Musikschaffende, die für ihre ausdrucksstarken Stimmen und ihre enge Verbindung zu Jazz, Fado, Flamenco und lateinamerikanischer Musik bekannt sind. Diese beiden Schlüsselfiguren der iberischen Musikszene verbindet eine jahrelange, innige Freundschaft, an der sie uns jetzt mit ihrem Album „Sílvia & Salvador“ musikalisch teilhaben lassen. In nur einer Woche komplett analog aufgenommen, wirkt das Werk wie ein musikalisches Gespräch voller Zärtlichkeit, Respekt und Spontanietät. Durch diese analoge Produktion ruht in der Musik eine Wärme, Nähe und Direktheit als würden die beiden Ausnahmetalente ein Privatkonzert auf dem Sofa geben. „Sílvia & Salvador“ ist kein Produkt, sondern eher eine Begegnung. Zwei wunderbare Stimmen in einer freundschaftlichen Umarmung – virtuos, tief und in jeder Note menschlich.
Juni 2025
MATT BERNINGER - Get Sunk
Matt Berninger, seines Zeichens passionierter Rotweintrinker und Sänger der amerikanischen Indie-Band „The National“, hat sein zweites Solo-Album veröffentlicht. „Get Sunk“ ist sein Einatmen, sagt er, nach dem Auftauchen aus dem Wasser, in das er vorher versunken ist. Stilistisch sehr abwechslungsreich und mit vielen Gastmusikern gespickt lebt das Album von Berningers unverwechselbarer Stimme. Diese wundervolle Stimme, mit der er mir auch das Telefonbuch (wenn es sowas überhaut noch gibt) vorsingen könnte und ich würde es lieben. Probiert es aus, es ist wunderbar.
YOUNG GUN, SILVER FOX - Pleasure
Wer, wie ich, Steely Dan aufs Äußerste vermisst, dem kann geholfen werden, denn es gibt seit einigen Jahren Young Gun Silver Fox. Mit ihrem aktuellen Album „Pleasure“, das fünfte seit 2015, beweisen der britische Songwriter Andy Platts und der amerikanische Multiinstrumentalist Shawn Lee, dass man den lässigen, stylisch arrangierten West Coast Rock in unsere Zeit retten kann. Auch auf ihrem aktuellen Album machen die beiden keinen Hehl aus ihrer Verbeugung vor den ganzen Großen des Genres, wie eben Steely Dan oder auch, wenn es souliger wird James Brown bzw. Shuggy Otis. Vom ersten bis zum letzten Stück wippt der Fuß und klingelt der Eiswürfel im Glas. Alle Songs sind präzise arrangiert mit einem hervorragenden Gespür für das richtige Timing. Gleich am Anfang zeigt „Stevie & Sly“ wo es langegeht, lässige Beats, tolle Chorarrangements und ein Händchen für Melodien. Im Prinzip muss man die ganze Platte durchhören und wieder von vorne anfangen, wenn man dieses schöne Gefühl von Wärme und Sommer konservieren möchte. Glücklicherweise haben Andy und Shawn diese wunderbare Musik ins Jetzt gerettet, danke!
MODEL/ACTRIZ - Pirouette
Ohne despektierlich klingen zu wollen, aber die meisten Rockbands versuchen doch im Grunde genommen, wiedererkennbare Klänge aus der Vergangenheit auf relativ neue Weise anders anzuordnen. Da ist nichts gegen einzuwenden, denn mitunter funktioniert das ja vortrefflich. Model/Actriz klingen aber nicht wie diese Bands.Model/Actriz klingt wie niemand anders sonst zur Zeit.
„Pirouette“ ist ein tanzbarer Fiebertraum mit einer permanenten, unterschwelligen Anspannung, die nie wirklich aufgelöst wird. Jedes Instrument wird als Rhythmusinstrument eingesetzt. Auch die Gitarre ist eher Perkussion als Melodie. Sie dröhnt, flirrt und kreischt in kontrolliertem Chaos mit virtuosem Timing auf, begibt sich aber nie auch nur in die Nähe eines „Rockriffs“. Der Gesang dazu changiert zwischen exaltiertem Raunen und naiver Harmonie und konterkariert die Polyrhythmik der Band nicht selten als weiteres Perkussionsinstrument.
Nein, Model/Actriz klingen nicht wie andere Bands. Sie sind ihr eigener Referenzpunkt.
"Pirouette" erscheint am 06.06.25 auf LP und CD
